Montag, 19. November 2007
Ängste
Das ist schon witzig mit den Ängsten, die man so entwickelt und sich dann auch noch einbildet, die hätte man nur ganz alleine und der Rest der Welt ist locker, selbstbewusst, erfolgreich, beliebt und gesellschaftlich gefestigt.

Am Wochenende war Abiturtreffen. Silbernes Abiturtreffen genauer gesagt. Und da wir nach der eigentlichen Abiturfeier nur einmal, fünf Jahre später, ein Abiturtreffen hatten, habe ich bis auf zwei Ausnahmen alle ehemaligen Mitschüler die letzten 20 Jahre nicht gesehen.

Gewarnt worden war ich, dass es ernüchternd wäre, weil man so viele alte Leute trifft und dass ich da mal nicht zu viele Hoffnungen reinsetzen solle, die alten Zeiten seien vorbei und ließen sich auch nicht mehr beschwören.

Es war aber ganz anders.
Alte Leute waren nur ganz wenige da (höchst erstaunlich, aber grade die Frauen waren überwiegend noch sehr attraktiv, ich habe maximal zwei klassische Muttertiere geortet und über Kinder wurde so gut wie gar nicht geredet, nur die Männer, die waren einige schon recht dick geworden, aber das waren ja zum Glück halt auch nur Männer) und die alten Zeiten wollte ich mal ganz sicher nicht beschwören, denn die neuen gefielen mir eindeutig besser.
Von 150 Abiturienten sind immerhin 108 zu diesem Treffen gekommen, einige teilweise aus Übersee extra eingeflogen, ge- oder auch nur erkannt habe ich kaum jemanden, aber so ging es wohl den meisten und so entstand sehr schnell eine Atmosphäre, der gemeinsam vertrauten Fremdheit und es entwickelten sich die interessantesten Gespräche.

Man tauschte gemeinsam Jugenerinnerungen aus und das war ein echter Austausch: Hier hast du meine, ich bekomme dafür deine, das ist ja interessant, die sind ja ganz anders.

Denn plötzlich outeten sich viele, in wen sie früher verliebt gewesen wären und dass der oder die ihn oder sie nie beachtet hätte, man erzählte sich gegenseitig, wie und was man vom jeweils anderen noch erinnerte, welche Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte man früher hatte - und ich kam aus dem Staunen nicht mehr raus.

Ich bin in Me*erbusch zur Schule gegangen - dem Schickimickivillenvorort von D*dorf, leider hatte ich die falschen Eltern. Mein Vater war "nur" Lehrer und statt einem Haus in M*busch, hatten wir ein Haus auf Borkum, aber das war ja nur für die Ferien und um es zu finanzieren, mussten wir es auch noch an Gäste vermieten, zu Hause wohnten wir in einer engen Etagenwohnung. Geld war immer knapp und meine Kleidung entsprach nie dem Gruppendurchschnitt. Ich fühlte mich deshalb immer als Außenseiter, hatte ständig Sorge, dass mich die anderen nicht mögen, dass ich zu aufdringlich bin, dass ich was falsch mache, eben dass ich schlicht nicht dazugehöre. Und schön war ich auch nicht. Nur viel zu groß und klapperdürr. Dazu auch noch Sommersprossen, keine Kurven und langweilige Haare. Dafür aber meist gute Noten in der Schule, was mir ein zusätzliches Streberimage verschaffte, wie ich stets befürchtete, so dass ich mich vorsätzlich gerne sehr uninteressiert gab.

Meinen ersten richtigen Freund hatte ich mit 16, lange Zeit habe ich aber vermutet, dass er mehr an meinen Lateinhausaufgaben als an mir interessiert war.

Viele Freunde hatte ich während meiner Schulzeit auch nicht. Nur eine wirklich gute Freundin, mit der konnte ich alles bereden und wir waren ständig zusammen, zu einer festen Clique habe ich mich aber nie zugehörig gefühlt.

25 Jahre später treffe ich nun die Menschen wieder, mit denen ich 9 Jahre meines Lebens verbracht habe und erfahre erstmals, dass ich wohl gar kein Außenseiter war. Der Junge, den ich immer so bewundert habe, erzählt mir fröhlich, wie toll er mich gefunden hätte, aber ich wäre ja unerreichbar für ihn gewesen. Die Mädchen, zu deren Clique ich so gern gehört hätte, erzählten mir, wie neidisch sie auf meine Leichtigkeit in Punkto Schulleistungen gewesen wären und wie oft sie sich gewünscht hätten, sie wären mit mir befreundet, damit ich ihnen hätte helfen können. Mein glänzendstes Schönheitsidol der damaligen Zeit, das Mädchen mit den reichsten Eltern, den schicksten Klamotten, den schönsten Locken und der tollsten Figur erzählte mir, wie viele Ideen sie bei mir abgeguckt hätte, weil sie es so toll fand, dass ich nie die Sachen trug, die die anderen auch alle hatten, (kein Wunder, die konnte ich mir ja auch nicht leisten) und überhaupt konnten sich deutlich mehr Leute an mich erinnern als ich mich an sie.
Ein Mädchen erzählte, wie sehr sie sich immer geschämt hatte, weil sie ständig auf der Kippe stand, was die Versetzung anging, eine andere hat ewig versucht zu vertuschen, dass ihre Eltern sich getrennt hatten, eine dritte hatte dicke Komplexe wegen ihrer Pickel und wieder andere genierten sich ob ihrer reichen Eltern, weil sie das alles viel zu protzig fanden.

Wie bescheuert kann man eigentlich sein? All meine Ängste waren überflüssig und eingebildet, im Gegenteil, die anderen hatten eher Angst vor mir und trauten sich nicht, mir lästig zu werden, weil ich doch "so cool" war. ICH und COOL????? Ich lach mich weg. Ich sitze daheim in meinem Zimmerchen und beneide die anderen um ihr lässiges Selbstbewusstsein und denen ging es genau andersrum?
Alle hatten sie ihre Komplexe, Probleme, Sorgen und Ängste und nur ich dachte, mir ganz allein geht es so. Ich bin schon eine ziemlich dämlich ignorante Kuh.

Nachdenklich machte mich deshalb die oft geäußerte Bemerkung "Na, Du hast Dich ja wirklich gar nicht verändert."
Bin ich etwa immer noch so - geht es mir immer noch genauso?
Ja, ich habe immer noch Angst, dass ich anderen lästig fallen könnte, dass ich als aufdringlich und nervig wahrgenommen werde. Sehe überall feste Cliquen und traue mich nicht, mich einfach dazuzustellen.
Je attraktiver jemand auf Anhieb auf mich wirkt, umso mehr Sorge habe ich, dass er grade weil er so attraktiv ist, ja auch sehr beliebt sein muss und schon längst genug Freunde hat, und die sind garantiert alle besser als ich und schöner und klüger und netter und, ach überhaupter eben.
Nachher laufe ich da nur als gedultetes fünftes Rad am Wagen mit und nein, dann lieber besser gleich gar nicht.
Und die anderen können ja auch alle immer mehr als ich.
Die wissen viel mehr über Politik und Geographie, haben Ahnung von Kunst, Musik und Film, kennen die neuesten Bücher, die angesagtesten Kneipen und kleiden sich grundsätzlich schick, elegant oder lässig, auf alle Fälle mit viel Stil.
Hier in KBD schreiben alle viel tollere Texte als ich, haben grundsätzlich witzigere Ideen, liefern schlagfertige Kommentare in zahllosen blogs ab.......

- und mir fällt auf, wie bescheuert ich bin.

Ich glaube, ich sollte mal langsam Schluss machen, mit diesen überflüssigen Komplexen. Mein Gejammer klingt verdächtig nach fishing for compliments, dabei ist es das gar nicht.
Es ist einfach nur eine tiefsitzende Meise, die ich als liebgewonnenes Kindheitstrauma immer noch mit mir rumschleppe, aber heilen kann ich mich nur selber, niemand anderes.
Therapie für heute: In fünf fremden blogs kommentieren und dabei als Mantra vor mich hinmurmeln:
"Nein, die finden dich nicht blöd, die freuen sich über jeden Kommentar. Nein, die finden dich nicht blöd, die freuen sich über jeden Kommentar. Nein, die finden dich nicht blöd, die freuen sich über jeden Kommentar. Nein, die finden dich nicht blöd, die freuen sich über jeden Kommentar."

Punkt

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Streichergebnis
Die letzte Woche war schlicht überflüssig, so dass ich beschlossen habe, sie kurzerhand zu streichen.
Das einzig Erfolgreiche war noch das Essen mit dem Bruder, das absolut perfekt verlief.

Der Große war für die Tischdeko zuständig, was er sehr fein gelöst hat, nur dass die Servietten fehlten war wohl das Zeichen, dass wir hier zu selten "fein" essen.

Insgesamt hat aber nicht nur die Optik überzeugt, auch das Essen selber samt meinem mutigen Experiment in Sachen "Kartoffelgratinpesto" war ein voller Erfolg. Schmeckte hervorragend, wenngleich grüne Kartoffeln ein etwas gewöhnungsbedürftiger Anblick sind.

Deshalb habe ich es auch mit Fotos nur vom Vorspeisengang bewenden lassen, nicht dass noch der Eindruck aufkommt, die Kartoffeln wären rückwärts gegessen worden, ähem.....

So sah es aus:




etwas größer dann so:





Der Bruder taute dann auch sehr schnell auf und erzählte seinerseits Geschichten über die Schwester, die mir nur die Haare zu Berge stehen ließen. Ich denke, die Fronten in der Familie sind nun wirklich eindeutig geklärt. Nur die Mutter steht noch gewaltig dazwischen, da sie im Haus der Schwester wohnt und dort auch nicht weg kann, aber dann wird sie halt künftig mehr reisen müssen, wenn sie ihre anderen Kinder besuchen möchte. Immerhin hat sie akzeptiert, dass wir kein gesteigertes Bedüfnis mehr nach großen Familienzusammenkünften haben.

Jetzt hoffe ich, dass diese Woche besser verläuft und mein Unterbewusstsein nicht mehr ständig an diesem Thema nagt. Insgesamt bleibt aber ein latentes Schuldgefühl, dass ausgerechnet ich diejenige bin, die verantwortlich dafür ist, dass sich das bisher wenigstens nach außen als so perfekt demonstrierte erfolgreiche und glückliche Großfamilienbild beginnt, in einzelne Fetzen aufzulösen.
Aber weder will ich noch kann ich in irgendeiner Weise zurück. Jetzt habe ich einmal damit begonnen, diese große, schillernde Seifenblase voll falscher Illusionen anzustechen, jetzt werde ich auch lernen, mit den Folgen umzugehen.
Blöd nur, dass der Boden der Tatsachen oft so unangenehm hart ist.

ach komm, Frau L. - kehr die Scherben zusammen und mach einfach einen

Punkt

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