Montag, 29. Oktober 2007
Kummer
Es tut weh, zuzusehen, wie er leidet.
Täglich wird ihm bewusster, wie ihm sein altes Leben unter den Fingern wegflutscht und was er grade dabei ist zu verlieren.
Zu spät bemerkt er, dass die Dinge, die er für selbstverständlich hielt, eben doch nicht so selbstverständlich sind, dass die Menschen in seiner Umgebung tatsächlich Menschen sind, mit eigener Persönlichkeit, eigenen Ansprüchen und eigenen Rechten.
Jetzt versucht er zu retten, was nicht mehr zu retten ist, versucht zu kitten, was längst völlig zersplittert ist. Gleichzeitig zerschlägt er aber auch immer wieder neues Porzellan, was ihn erst aggressiv, anschließend dann sehr depressiv macht. Er will es nicht und doch passiert es ihm, er ist halt so.

Er klagt sich an und weiß doch, dass er sich nicht ändern wird, er klagt mich an und weiß doch, dass ich mich nicht mehr ändern will.
Er klammert sich an die Kinder, die vor Schreck zurückweichen.
Er macht Geschenke und Komplimente, ist liebevoll, aufmerksam und sehr bemüht.
Ich stehe daneben und weiß, ich kann ihm nicht helfen. Jede freundliche Geste würde nur Hoffnungen wecken, die keine Zukunft haben. Ich weise ihn zurück und sehe, wie er unter den Schlägen zusammenzuckt. Er bettelt um Liebe und ich wende mich ab.
Ich will ihm nicht wehtun, ich sehe aber auch keinen anderen Weg, wenn ich mich nicht selber völlig aufgeben will.
Der Preis für die eigene Freiheit ist hoch, das wusste ich vorher, jetzt muss ich noch lernen, mit meinem schlechten Gewissen zu leben.

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Sehr traurig. Wie kommt das?

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Wie kommt das?


weil mittlerweile so viel Porzellan zerschlagen wurde, dass kaum noch was heil blieb. Ich stand lange Zeit ziemlich erstarrt vor diesem Scherbenhaufen. Wenn ich versuchte, etwas aufzuheben und zu kleben, habe ich mich geschnitten oder bin ausgerutscht und es ging noch mehr kaputt. Zurück blieben offene Wunden, schmerzende Splitter und sehr viele Narben.
Irgendwann stellte ich fest, dass ich dabei bin, stückchenweise auszubluten, da war es schon sehr spät und ich war bereits sehr schwach und hilflos. Ich habe ihn gebeten, mir zu helfen, aber er wusste nicht wie, er hat mein Problem einfach nicht verstanden.

Mit letzter Kraft habe ich es dann geschafft, mich selber zu verarzten, was aber auch bedeutete, dass ich keine Scherbe mehr anfassen durfte, um nicht sofort neue Wunden aufzureißen.
Heute bin ich wieder einigermaßen fit und habe begonnen, mein Leben umzustellen. Ich habe mir neue Ziele gesucht, mögliche Perspektiven entdeckt, gute Freunde gefunden und gehe nun das erste Mal einen Weg ganz allein.
Wenn ich diesen Zustand halten möchte, weiß ich, dass er mich dabei nicht begleiten kann, denn noch immer zerschlägt er täglich irgendwelches Geschirr und reißt knapp verheilte Narben wieder auf.

Ich habe begriffen, dass er sein Leben im Konjunktiv lebt. Man "könnte" so vieles tun, aber Mann hat nie Zeit, es in Ruhe zu organisieren. Dadurch besteht sein Alltag aus einer dauernden Folge von Improvisationen. Nichts ist geregelt, es gibt keine Norm und keine Gewohnheit.
Das war aufregend als ich ihn kennen lernte, ein Leben auf der Überholspur hat er mir geboten, täglich neue Herausforderungen, keine Wiederholungen und garantiert keine Langeweile. Ich habe mich diesem Leben angepasst und war stolz darauf, die erste Frau in seinem Leben zu sein, die eine Konstante war.
Er ist brilliant, ein Überflieger und ein Genie. Dass er mich an seiner Seite akzeptierte, war das größte Kompliment, was ich mir vorstellen konnte.
Aber so ein Leben ist anstrengend, irgendwann wurde ich müde, zudem kam dazu, dass ich einen täglichen Spagat zwischen den Bedürfnissen der Kinder (denn Kinder brauchen unbedingt Regeln und Gewohnheiten) und seinen Improvisationsanforderungen turnen musste. Gedanken über meine eigenen Bedürfnisse habe ich mir lange nicht gemacht, zu sehr war ich darauf fixiert das Bild zu halten, was er von mir hatte und auf das ich so stolz war. Als ich begann, selber Forderungen zu stellen, wurde es kompliziert. Dafür hatte er keine freien Kapazitäten und vor allem kein Verständnis. Ein geregeltes Leben, etwa noch in einem spießigen Langeweilerhaus? No never.
Alleine konnte ich meine Vorstellungen aber auch nicht umsetzen, für vieles fehlte mir mittlerweile auch der Schwung. Und so blieb ich stehen, fand alles ziemlich aussichtslos mit wenig Hoffnungen und war nach und nach nur noch Verwalter meiner eigenen Lethargie. Wenn man sich genug betäubt, merkt man nicht, was man alles verpasst. Nach außen sah es dafür prächtig aus.
Bis ich halt in letzter Sekunde aufwachte, die Alternative wäre gewesen, mich völlig aufzugeben.
Ich habe heute also genug Schwung, um mein Leben selber in den Griff zu nehmen und in Teilen zu ändern (hier kommt dann auch das "Anpassen" an gesellschaftliche Normen ins Spiel, was ich bisher noch nie musste) - aber sicher nicht genug Kraft, um ihn auch noch mitzuziehen und seine Andersartigkeit als Alltag zu ertragen.

Für ihn ist das entsetzlich, denn er war überhaupt nicht darauf vorbereitet. Zu lange lief aus seiner Sicht doch alles "normal".
Dass er sich neu orientieren wird, kann ich nur hoffen und nicht, dass für ihn mit dem Zusammenbruch des alten Lebens auch jeder weitere Lebensmut schwindet. Eigentlich ist er ein Kämpfer und deshalb vertraue ich darauf, dass er auch diese Situation irgendwann und irgendwie für sich zufriedenstellend zurechtimprovisiert. Noch aber hadert er mit der Realität.

 
Da fällt mir nur noch die rheinländische Weisheit "et is wie et is" ein. Bedauern kann man das, ja. Aber ändern vermutlich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Manchmal muss man die Grenzen seiner Verantwortlichkeit klar ziehen, Gewissen hin oder her.

 
Meine Eltern waren an einem ähnlichen Punkt. Zusammen ging es irgendwie nicht mehr, zur Scheidung fehlte letztlich aber auch der klare Wille. So sollte es dann auf eine räumliche Trennung (das Haus wäre groß genug für beide gewesen) hinauslaufen. Tja, kurz bevor das Fakt wurde, ist mein Vater dann gestorben. Das Herz. Tja. So verlockend es sein mag, meiner Mutter dafür irgendeine Schuld zuzuschreiben, muss man halt doch feststellen, dass für ihn (mehr oder weniger beim Erreichen seiner biologischen Lebenserwartung) der Weg zu Ende war - und dass er sich wohl unbewusst nicht mehr in der Lage sah, sich mit diesen veränderten Rahmenbedingungen zu arrangieren. Um anders um den Erhalt des status quo zu kämpfen, fehlte ihm wohl auch die Kraft.

Sie müssen Ihren Weg gehen und im Zeifelsfall halt mit den Konsequenzen Ihres Handelns leben. Mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen.

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Ja,
ich werde meinen Weg gehen, denn ein Zurück gibt es nun auch nicht mehr.
Ich kann nur hoffen, dass er weder am Ende seiner biologischen Lebenserwartung steht (auch wenn er fast 15 Jahre älter ist als ich), noch dass ihm die Kraft fehlt, sich an die veränderten Lebensumstände anzupassen.
Aber er muss einfach akzeptieren, dass ich ein eigenes Leben habe und dass meine Träume u.U. ganz anders sein können als seine, aber trotzdem eine gleichwertige Berechtigung haben.
Und vor allem muss er akzeptieren, dass ich auch ohne seine Unterstützung, dafür mit neuen, eigenen Kontakten, durchaus erfolgreich sein kann, eine Lektion, die einem lebenslangen Beraterüberflieger ganz besonders schwer aufstößt.

 
puh. ein großer schritt. mutig und stark und sicher nicht leicht. er klingt durchdacht, nachvollziehbar und ich wünsche dir viel kraft und zuversicht und alles gute für deinen weg.

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Würde man den Absatz mit den Kindern rausstreichen, könnte Ihr Text auch von mir sein. So wie schon einige in letzter Zeit. Ich habe oft ein schlechtes Gewissen, weil ich weiß, dass ich dazu beigetragen habe, dass es ihm jetzt noch schlechter geht. Weil ich weiß, dass er nicht so stark ist wie ich, dass ihm die neue Situation mehr zu schaffen macht als mir. Er, der immer für mich da war, und ich, die junge Egoistin, die ihn jetzt einfach so sitzen lässt. So fühlt es sich an, und so denken einige. Dabei habe ich lange versucht, ihm zu helfen, uns zu helfen. Es hat aber nicht gefruchtet, weil er die Augen vor allen Problemen verschlossen hat. Und irgendwann konnt ich nicht mehr. Manchmal habe ich den Eindruck, er möchte das Blatt noch einmal wenden. Aufmerksamkeit, Geschenke, Komplimente. Wie Sie es beschreiben. Das funktioniert aber nicht mehr. Ich bin längst dabei, mich freizuschwimmen. Und es geht mir gut dabei. Auch wenn mir das schlechte Gewissen und die Sorge um ihn oft im Nacken sitzen.

Ich wünsch Ihnen (und den Kindern) alles Gute.

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Irgendwas kommt beim Sich-Zusammentun und Sich-wieder-auseinanderdröseln leider immer unter die Räder, in diesem Fall wohl Dein reines Gewissen.

Schade, aber wohl unvermeidbar.

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